Sonntag, 20. März 2011

Lunatic at Kells

abt ihr euch gestern Nacht auch den Vollmond angesehen? Bei uns hat sich mit Beginn der Nacht zum Glück die Wolkendecke aufgelöst, so dass der Mond in seiner ganzen Pracht über einen blanken, sternenschimmernden Nachthimmel ziehen konnte. Leider hatte ich nicht ganz so viel Sinn dafür entwickeln können, weil's im Haus, eingedenk der Tatsache, dass zum Beispiel die klugen Engländer jemanden Verrücktes immer noch als "lunatic" bezeichnen, so richtig sinnlos aber laut gekracht hat. Im Nachhinein (soll heißen nach einem warmen, sonnenerfüllten Sonntag mit Büchern und Tee) denke ich, dass dies eine notwendige und wichtige Entladung gewesen war, die viele aufgestaute Frustrationen und Ängste lösen konnte, aber gestern Abend war ich natürlich ziemlich erschrocken und traurig, außerdem hasse ich schon im Vorfeld den Morgen nach solchen scherbenerfüllten Familienstreitereien. Jetzt ist aber alles wieder gut. Wir belieben uns lautstark zu streiten, das macht das Balkanblut, aber ebenso schnell verraucht die Glut auch wieder und was nach so einer waldbrandartigen Raserei übrig bleibt, lässt Raum für neues Wachstum.
Die Vegetationsmetaphern hat mir ein Film eingeimpft, den ich schon seit längerem empfehlen wollte, und zwar The Secret of Kells, die Art von Zeichentrickfilm, die man sich nach dem ersten Anschauen sofort auf die imaginäre Liste der Medien setzt, welche man später mal seinen Kindern zeigen möchte. Erzählt wird die (erfundene) Geschichte um die Entstehung des Book of Kells im 9. Jahrhundert in Irland aus der Sicht des Waisen und Novizen Brendan, dessen Onkel Cellach der Abt von Kells ist und die wahnlastige Idee hat, die Siedlung und das Kloster durch eine große Mauer vor den drohenden Wikingereinfällen zu schützen. Bald trifft ein Mönch namens Aidan in Kells ein, der vor den Wikingern von der Insel Iona nach Irland fliehen musste, und neben einer seeehr charaktervollen weißen Katze namens Pangur Bán ein unvollendetes Buch dabei hat, dessen herrliche Illustrationen, die vom berühmten Heiligen Colum Cille (besser bekannt als Saint Columban) begonnen worden sind, in der Lage sein sollen, das Böse zu besiegen und Dunkelheit in Licht zu verwandeln. Aber Aidan ist bereits zu alt um das Buch zu vollenden und spannt Brendan, der über einen wachen Verstand und viel Imaginationskraft verfügt (manchmal hat er Visionen), gegen den Willen des Onkels ein. Brendan verlässt auf Aidans Geheiß hin Kells auf der Suche nach Galläpfeln, um grüne Pigmenttinte herstellen zu können, und trifft in den unheimlichen Tiefen des Waldes auf Aisling (sprich äschling), eine Tuath de Dannan in Gestalt eines weißhaarigen Mädchens. Aisling, die manchmal die Gestalt eines weißen Wolfes annimmt, rettet Brendan nicht nur das Leben und zeigt ihm, wo er in ihrem Wald die Galläpfel finden kann, sondern warnt ihn auch vor den Menhiren und Hügelgräbern, in denen eine dunkle Entität zu Hause zu sein scheint.
Zurück in Kells lernt Brendan von Aidan die Kunst der Illumination und emanzipiert sich zunehmend von seinem dominanten und vom Mauerbau besessenen Onkel. Als die Nachricht eintrifft, dass die Wikinger in Irland auf dem Vormarsch sind und das Buch nicht fertig zu werden droht, vertraut Aidan Brendan an, dass er die feinziselierten und winzigen Illustrationen nur durch einen kaleidoskopartig vergrößernden Kristall, bekannt als "Colum Cille's third eye", ausführen konnte, der aber bei der Flucht von Iona zerstört wurde. Brendan erkennt in Aidans Beschreibungen und seiner Bemerkung, dass Colum Cille den Kristall im Kampf mit dem irischen Unterweltgott Cromm Gruach errungen hat, einen Gegenstand aus seinen Visionen wieder und kehrt mit der nur widerstrebend folgenden Aisling zu den Hügelgräbern zurück. Im Kampf mit Cromm Cruach reißt Brendan ihm ein Auge aus, das den Kristall darstellt, verliert aber Aisling, die sich nun nicht mehr in einen Mensch verwandeln kann und als weiße Wölfin in den Wäldern verschwindet. Brendan kehrt nach Kells zurück und vermag nun die unglaublichen Illustrationen im Buch auszuführen. Aber sein Onkel, der Abt Cellach, verärgert über die Abwendung seines Neffen von seinen Idealen, zerreist die ersten gelungenen Illuminationen und sperrt Brendan und Aidan im Skriptorium ein. Wenig später greifen die Wikinger Kells an, töten alle Einwohner, die sich nicht in den zentralen Turm des Klosters retten können, setzen die Siedlung in Brand und verletzen Cellach schwer. Brendan und Aidan können mit Aislings Hilfe entkommen, ziehen sich in eine Einsiedelei fernab in den Wäldern zurück, vollenden das Buch und reisen in den folgenden Jahren durch Irland, um mit seiner Hilfe die Menschen gewaltfrei zum Christentum zu bekehren. Erst als erwachsener Mann kehrt Brendan mit Pangur Bán nach Kells zurück, begegnet noch einmal Aisling in Gestalt der Wölfin und kann endlich mit seinem greisen Onkel Frieden schließen. Zu diesem Zeitpunkt wird das Book of Kells tatsächlich geöffnet und der Zuschauer sieht, was die Menschen in jener Zeit zweifelsohne zutiefst beeindruckt haben muss: die erstaunlichen und detailreichen Illustrationen, die ironischerweise nicht auf dem römisch-christlichen Bildkodex des restlichen Europas fußen, sondern auf dem, was die heidnisch-gälische Kultur dem irischen Christentum vermacht hat - eben das, was Brendan von Aisling lernen konnte.
Gut, die Story ist vielleicht etwas einfältig, aber was das visuelle Design des Filmes anbelangt, gehört das mit zum Schönsten, was die letzten Jahre auf dem Gebiet geleistet wurde, und was eben nur von Hand gezeichnete Filme bieten können. Alles in der Welt von Kells ist keltischen Formen nachempfunden und wirkt wie eine Buchmalerei, durchmischt zwar mit ein bisschen Klimt und ein bisschen Hundertwasser, was aber nicht stört. Schön auch, dass es trotz des christlichen Hintergrunds kein wirklicher Missionierungsfilm ist. Jesus wird nicht einmal erwähnt, und "god" nur, wenn sich's nicht vermeiden lässt. Was im Vordergrund steht, ist die Darstellung von Glaube und Imagination, die die Mönche befähigten, eines der bedeutendsten Kulturzeugnisse des Frühmittelalters zu schaffen, das wirklich wie ein Licht in diesen finsteren Zeiten erschienen sein muss.
Neben Aisling ist zweifelsohne die Katze Pangur Bán die sympathischste Figur im Film. Pangur Bán ist gälisch und bedeutet ungefähr so viel wie "weiße Walkwolle". Der Name hat einen realhistorischen Hintergrund, wie ich entzückt festgestellt habe, und zwar geht er auf ein altirisches Gedicht zurück, das von einem zweifelsohne begabten irischen Wandermönch gedankenlos an den Rand einer Handschrift in Süddeutschland gekritzelt wurde, und in dem er das Jagen seiner weißen Katze Pangur Bán nach Mäusen mit seinem eigenen Streben nach Erkenntnis durch die Buchlektüre vergleicht. Das ganze Gedicht kann man hier nachlesen, der Link zur englischen Übersetzung steht ganz unten. Man muss sich das einmal vorstellen, dass jemand im 9. Jahrhundert nach Christus, einer Zeit, in der nach dem Untergang der Antike das Mittelalter begonnen hat, so richtig finster zu werden, einfach ein auf seine Art so schönes Gedicht aus dem Ärmel schüttelt, ohne Herumgefeile, als bloße Randnotiz und Gedankenspielerei - kein Wunder, dass Irland damals den Ruf hatte, eine Insel zu sein, die nur von Heiligen und Gelehrten bewohnt wurde.


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